Der gestrige Abend hat sich dahingehend entwickelt, dass ich zumindest zwei meiner drei Lieblingsverfilmungen von Stephen-King-Romanen einer Neusichtung unterzogen habe. Als erstes stand „Carrie“ auf dem Programm.
Die 16-jährige Carrie White (Sissy Spacek) steht unter der Fuchtel ihrer fanatisch-religiösen Mutter Margaret (Piper Laurie). Auch in der Schule hat es Carrie nicht leicht. Ihre Mitschülerinnen sehen in dem stillen, etwas sonderbaren Mädchen ein leichtes Opfer. Als die unaufgeklärte Carrie dann auch noch nach dem Sportunterricht unter der Dusche das erste Mal ihre Tage bekommt, kennt der Hohn und Spott der Mädchen keine Grenzen. Nur Sue (Amy Irving) hat Mitleid mit Carrie. Um sie wieder aufzubauen und ihr etwas Selbstbewusstsein zu geben, überredet sie ihren Freund Tommy (William Katt) Carrie zum Abschlussball auszuführen. Doch Mitschülerin Chris (Nancy Allen) bekommt davon Wind und fasst einen Plan, wie sie es Carrie auf dem Abschlussball so richtig zeigen kann.
Schon die ersten Minuten haben mich vollständig in den Bann gezogen. Die Duschszene gehört dank De Palmas Genie und Sissy Spaceks hingebungsvollem Spiel zu den intensivsten und traurigsten Filmmomenten, die ich in der letzten Zeit gesehen habe. Schon diese ersten Augenblicke verraten und präsentieren ein schmerzhaft pessimistisches Bild der Natur des Menschen. Im weiteren Verlauf finden sich ebenfalls zahlreiche Momente, die über sich selbst hinausweisen und Szenen, die schon für sich genommen kleine Meisterwerke sind. Besonders gut hat mir gestern die Einleitung des Finales gefallen, in der eine subtile Dissonanz das kommende Unheil ankündigt: Beim Tanz von Tommy und Carrie, dreht sich einfach alles etwas zu schnell und man ahnt, dass die Figuren nunmehr kurz davor sind, aus der Bahn geschleudert zu werden. Mich hat das nicht besonders subtile aber dafür umso kraftvollere Ende gerührt, als die verstörte Carrie zu ihrer Mutter zurückkommt, dort aber nicht den erhofften Trost findet, sondern es zur finalen Auseinandersetzung zwischen den beiden kommt.
Die Geschichte scheint voll und ganz auf das blutige Finale zugeschnitten zu sein. Es ist De Palmas Verdienst, dass er auch den Weg dahin spannend, bildgewaltig und psychologisch stimmig in Szene setzt, dass „Carrie“ mehr ist als ein einfacher Horror- oder Rachefilm. De Palmas zeigt eindrucksvoll das Leben einer Außenseiterin und analysiert präzise die Mechanismen von Repression und Gewalt. Weil sie von ihren Mitschülerinnen gequält wird, werden diese von ihrer Lehrerin (Betty Buckley) bestraft. Der Hass der Schülerinnen richtet sich allerdings nicht gegen die Lehrerin, sondern natürlich gegen das leichter Opfer, gegen Carrie, die sie dafür noch einmal so richtig büßen lassen wollen. Wie De Palmas diesen Mechanismus filmt, scheint er mir nicht nur für den im Film gezeigten speziellen Fall zu gelten, sondern generell eine Studie des menschlichen Verhaltens und der Entstehung von Gewalt zu sein. Interessant ist, dass nicht nur das Ende als Resultat der vorausgehenden Ereignisse gesehen werden muss, sondern diese sich wiederum noch über den Anfang der Geschichte hinaus zurückverfolgen lassen würde. So bekommt man eine vage Ahnung, was z.B. Carries Mutter Margaret erlitten haben muss, das sie in den religiösen Wahn getrieben wurde.
„Carrie“ war schon immer einer der King-Romane, die mich weniger interessiert haben, was seltsam ist – schließlich ist das ein großartiger Stoff und das hätte mit eigentlich beim Lesen auffallen müssen. Aber vielleicht brauchte ich einfach die Bilder von Brian De Palma, um das zu erkennen. Heute, einen Tag nach Sichtung des Films (das Mal davor ist bestimmt 15 Jahre her), kann ich nichts anderes als überwältigt zu sein, was De Palma aus der Vorlage gemacht hat. Was für ein Film! „Carrie“ ist ohne Wenn und Aber ein Meisterwerk!
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